Montag, 13. Februar 2023

Der Fall Simone Haller



Abschlussbericht im Fall von Simone Haller.

Vor gut sieben Wochen kam die neunundzwanzigjährige Patientin Simone Haller zu uns in die geschlossene Anstalt für psychisch auffällige Straftäter*innen. Frau Haller, geborene Schmidt, hatte ihren Ehemann niedergeschlagen, seine Kleidung zerrissen und ihn danach so sehr mit ihren Fingernägeln zerkratzt, dass dabei über fünfzig Prozent seiner Haut beschädigt wurden. In ersten Gesprächen mit der Polizei wurde Simone H. verhaltensauffällig und griff die Beamten an, nachdem sie für einen kurzen Moment entsetzt und verängstigt zu ihnen herüber geschaut hatte. Ein vernünftiges Gespräch war mit ihr zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen und nach ihrer Attacke auf die Polizisten, sperrte man sie in eine Zelle und beantrage ein psychologisches Gutachten im Eilverfahren. Der Kollege, Dr. Prof. Hermann Tiez, untersuchte sie bereits am nächsten Tag. Frau Haller musste jedoch in Handschellen gelegt und festgehalten werden, da sie sich auch an diesem Tag noch als äußerst aufgebracht und aggressiv darstellte. Insgesamt fünfzehn Stunden Gesprächsversuche und einige Blutergebnisse später, stellte Dr. Tiez die vorläufige Diagnose. Paranoide Schizophrenie in Verbindung zu einer stark ausgebildeten Trypophobie und dahingehenden Halluzinationen.

Zum Verständnis: Trypophobie ist ein Ekel oder die irrationale Angst vor einer unregelmäßigen Ansammlung an Löchern.

Dr. Tiez veranlasste eine sofortige Einweisung in unsere Einrichtung und gab nach einem kurzen Gespräch diesen Fall an uns ab.

Frau Haller erreichte uns dann drei Tage später in einem völlig desolatem Zustand. Sie hielt angeblich schon über achtundvierzig Stunden lang die ihre Augen durchgehend krampfhaft geschlossen und die Hände waren aufgrund ihrer wehrhaften Reaktionen nach wie vor mit Handschellen auf dem Rücken fixiert gewesen, was die Versorgung der jungen Frau und ihren Transport hierher zusätzlich erschwert hatten.

Die ersten Gespräche, die ich persönlich mit ihr führte, waren jedoch recht vielversprechend. Durch das Schließen ihrer Augen und somit der Stilllegung möglicher Trigger, hatte sie sich selbst etwas beruhigen können. Sie begann, wie bei Dr. Tiez, von ihrer Phobie zu berichten, die seit einigen Wochen immer stärker wurde. Und nach und nach dann auch von den rätselhaften Ereignissen, die letztendlich zu ihrer Straftat, der massiven Körperverletzung ihres Mannes, geführt hatte. Ich merkte ihr sofort an, wie unangenehm ihr die eigenen Worte waren, so als würde sie selber wissen, wie unglaubwürdig sie dabei klänge.

Simone H. erklärte, dass sie an Trypophobie leide und das ihr in letzter Zeit immer mehr von diesen merkwürdig erscheinenden Löchern aufgefallen waren. Bis zu einem Tag, an dem selbst dort welche zu sehen waren, wo eigentlich keine sein sollten. In der Zeitung. In der Wohnzimmerwand. In der Badewanne. Oder sogar dem Essen. Sie zählte noch eine Vielzahl weiterer Beispiele auf, wobei sie sich bei jedem Punkt vor Ekel und Abscheu schüttelte. Dann berichtete Frau Haller von der Nacht, in der sie ihren Ehegatten niederschlug und warum sie ihn so zugerichtet hatte. Simone hatte an diesem Tag unglaublich widerwärtige Halluzinationen von Löchern gehabt und das in einer Masse, die nur schwer für sie zu ertragen gewesen seien und sie schließlich dazu zwang, zusammengekauert und mit geschlossenen Augen auf ihren Mann zu warten. Doch als sie diesen, am späten Abend hörte, riss sie die Augen auf und rannte panisch weinend zu ihm, in der Hoffnung er könnte ihr helfen. Als sie ihn jedoch sah, wurde sie nach eigenen Angaben fast verrückt bei dem Anblick, der sich ihr dort bot. Die gesamte Haut ihres Partners war durch und durch mit kleinen Löchern übersät. In einem Anflug von Panik schlug sie ihn mit dem nächstmöglichen Gegenstand, den sie finden konnte nieder und versuchte anschließend panisch ihn durch das Aufkratzen seiner Haut, von diesen Löchern zu befreien. Was ihr nicht gelang. Sie merkte spät, dass sie sich die Löcher scheinbar eingebildet haben musste, denn egal wie stark und tief sie die Haut ihres Mannes aufriss, blieben sie an Ort und Stelle. Dabei hatte sie diese nicht mal an ihren Fingern spüren können, während sie ihren bewusstlosen Gatten bearbeitet hatte.

Als ihr dies langsam klar wurde, rief sie einen Krankenwagen, erzählte was sie getan hatte und sank weinend zusammen. Als Krankenwagen und Polizei die Wohnung betraten und sich um den bewusstlosen Mann und die schluchzende Frau kümmern wollten, attackierte sie die Beamten und wurde in Haft genommen. Ihren Aussagen zufolge, wollte sie sich jedoch nur wehren, da auch die Gesichter der Polizisten voller Löcher gewesen seien.

Nach unserem Gespräch bot ich der Patientin an, erst einmal hier bei uns zu bleiben, so das wir uns gemeinsam um das Problem kümmern könnten. Sie willigte ein, mit der Voraussetzung die Augen geschlossen halten zu dürfen. Zusammen arbeiteten wir ein Konzept aus, welches ihr erlauben würde, sich mit einer speziellen Schlafmaske fortzubewegen und selbst pflegen zu können. Da sie sich nach dieser Einigung beruhigt hatte, konnte auf die Handschellen verzichtet werden, sobald sie ihren Raum bezogen und die Maske angelegt hatte.

In den nächsten zwei Wochen sprachen wir viel über ihre Vergangenheit und darüber, seit wann sie an ihrer ausgeprägten Trypophobie litt. Ich fand heraus, dass sich ihre Phobie erst vor ein paar Jahren das erste Mal geäußert hatte, damals aber noch schwach gewesen sei. Erst vor ein paar Wochen dann, habe sich dies geändert und war danach immer stärker geworden, bis es inzwischen wahnhafte Züge angenommen hatte. Ihr Mann, so sagt sie, hatte mit der Situation ebenso hart zu kämpfen gehabt und sie unterstützt, wo er nur konnte. Immer wenn sie von ihm erzählte, fing sie an zu weinen. Es war unübersehbar, dass ihr das unendlich leid tat, was sie ihm in jener Nacht angetan hatte. Herr Haller lag nach wie vor im Krankenhaus und konnte wegen seiner Schmerzen nicht herkommen, war aber auf dem Weg der Besserung, wenn auch langsam.

Ich hatte wirklich den Eindruck wir machten gute Fortschritte, bis eine radikale Änderungen eintrat. Ich hatte bereits meinen Dienst beendet und war Zuhause angekommen, als mich ein Anruf meiner Einrichtung ereilte. Frau Haller sei mit einem Male völlig durchgedreht und die Pfleger hatten sie nicht mehr beruhigen können. Ich fuhr sofort zurück in die Anstalt und fand die Patientin vor, wie sie von fünf Mitarbeiter*innen zu Boden gedrückt werden musste. Dies jedoch hinderte sie nicht daran, sich wie eine Besessene zu wehren, zu schreien und zu drohen. In erster Linie empfand ich ihr Verhalten als äußerst aggressiv, verstand aber schnell, dass die pure Angst aus ihr sprach. Doch nun war sie gerade dabei, sich und andere dadurch zu gefährden und darum entschied ich mich, ihr Triazolam zu verabreichen. Ein Recht schnell wirksames Benzodiazepine und ordnete, nach dem sie sich beruhigt hatte an, nach Bedarf mit Oxazepam weiter zu therapieren, um eine längere Wirkdauer zu erreichen.

In den folgenden Tagen sprach sie davon, dass sich etwas Entscheidendes geändert hätte, was ihr ein Leben ohne starke Medikation unmöglich machen würde. Sie erzählte, dass sie nun nicht mehr nur diese Ansammlung von Löchern sah, sondern nun auch noch fühlte. Egal was sie anfasste, alles fühlte sich an, als wäre es voller abartiger Löcher. Ich erklärte ihr, dass wir dadurch einen Punkt erreicht hätten, der problematisch werden würde. Das Oxazepam schien zu helfen, war jedoch für eine dauerhafte Therapie ungeeignet, da sich nach einiger Zeit eine starke Sucht daraus entwickeln könnte und ich zweifelte, dass andere, stärker sedirende Medikamente, angebracht für sie sein würden. Bei dem Gedanken daran, dass ich ihr das Medikament entziehen könnte, bekam sie eine heftige Panikattacke und ich versprach ihr, die Therapie so lang wie möglich beizubehalten. Das beruhigte sie und mit den Medikamenten konnte sie in den folgenden Tagen wieder ein Stück weit Normalität in ihren Aufenthalt bringen.

Aber ein paar Tage später eskalierte die Situation erneut. Dieses Mal während meiner Anwesenheit im Gebäude. Sie hatte darüber geklagt, dass die Medikamente nicht mehr wirken würden und sie wieder all die Löcher sehen und fühlen könnte. Schwach, aber sie wären da. Frau Haller bekam einen Tobsuchtsanfall, als ihr die Pfleger eine Erhöhung der Dosierung ablehnten. Als ich bei ihr ankam, durfte ich miterleben, wie sich die Patientin aus Angst und Wut in Rage redete, dann plötzlich innehielt, sich die Ohren zuhielt und mit aller Kraft schreiend zusammen sackte.

Trotz anschließend erhöhter Medikation war sie aus diesem neuen Zustand nicht mehr herauszubekommen. Meist schrie Frau Haller wirres und unzusammenhängendes Zeug, doch manchmal verstand ich, was sie uns zu sagen versuchte. Scheinbar hatte ihr Wahn, eine ganz neue Dimension erreicht. Es schien so, als wäre die Ursache ihrer neuen Panik, dass sie nun auch noch Stimmen und Geräusche aus jenen Löchern hörte, die sie sich einbildete. Einmal sogar, hatte sie kraftlos angedeutet, etwas sich darin bewegen zu sehen.

Wir hatten keine andere Wahl als ihr stärkere Beruhigungsmittel zu verabreichen und sie in ihrem Bett zu fixieren. Im Laufe der folgenden Tage, die für alle Mitarbeiter eine Belastungsprobe waren, traten die ersten Wunden an ihrem Körper auf. Da sie nach wie vor sediert und fixiert gewesen war, rückte die Nachtpflege in Verdacht Frau H. in irgendeiner Form misshandelt zu haben. Das, nach der Beurlaubung des infrage kommenden Pflegepersonals, die Vorfälle nicht endeten, kann entweder bedeuten, dass diese unschuldig an den Wunden waren, oder das sie durch erneute Taten von jemand anderem gedeckt wurden. Eine Befragung der Patientin war in ihrem Zustand nicht möglich gewesen und der gerufene Arzt hielt die vielen kleinen Wunden für Bisse von Insektenlarven oder ähnlichem. Ein noch am selben Tag herbestellter Schädlingsbekämpfer konnte jedoch nichts dergleichen im gesamten Gebäude finden.

Eine Woche verstrich, in der sich der körperliche Zustand der Patientin drastisch verschlechterte und ich entschied, zwar die Gurte beizubehalten, aber die Medikation abzubrechen um sie in den nächsten Tagen zu den Wunden befragen zu können.

Dazu kam es jedoch nie. Simone Haller verstarb noch in derselben Nacht. 

Leider werden wir nun wohl nie herausfinden, wie ihre verschiedenen Krankheiten zustande gekommen waren und welche Ängste und Schmerzen sie dadurch hatte erleiden müssen. Eine Schuldunfähigkeit im Falle ihres Mannes können wir jedoch, nach dem, was wir anschließend in ihrem Raum fanden, zweifelsfrei festlegen.

Man fand sie früh morgens in einer Ecke ihres hell erleuchteten Zimmers und die Pflegerin, die sie dort vorfand, musste inzwischen in psychologische Betreuung und hat ihre Kündigung eingereicht. Auch kein Anderer von uns wird hier wohl je wieder vergessen können, was wir in diesem Raum vorgefunden haben. Frau Haller lag tot in einer Lache ihres eigenen Blutes. Sie hatte sich die Augen ausgekratzt, ihre Ohren verletzt und sich im Anschluss scheinbar ihre Finger selbst abgebissen, die nun wirr verteilt um ihre Leiche herum verstreut lagen. Vermutlich war sie nachts wach geworden und hatte das Licht eingeschaltet, um sich zu orientieren. Dann, beim Anblick und ertasten ihrer, im Wahn fantasierten Löcher musste sie nun diese so unglaubliche brutale Selbstverstümmelung begangen haben. Dem Risiko zu verbluten zum Trotz, was dann schließlich auch ihr Ende bedeut hatte. Die Gurte an ihrem Bett, die sie eigentlich dort festhalten und vor solchem Verhalten hätten schützen sollen, waren allesamt von diesen unerklärlichen kleinen Bissspuren durchtrennt worden, die wir zuvor auf ihrer Haut hatten feststellen können. Und wie uns der Gerichtsmediziner inzwischen mitteilte, hatten diese unbekannten Tiere nach den Gurten auch nicht damit aufgehört, weiter an ihr zu nagen. In den Bereichen, in denen der Arzt ganz folgerichtig die Gurte vermutet hatte, entdeckte er eine Vielzahl an madengroßen Löchern, die sich in das Fleisch der Toten gegraben hatten. Diese Löcher gingen ihr bis zu den Knochen und wären vermutlich auch schon ohne ihre Selbstverstümmelung tödlich für sie ausgegangen. Jedoch konnte der Mediziner keinerlei organische Rückstände finden, oder sonstige Anhaltspunkte für Insekten oder ähnlichem Getier, was bislang stark gegen die These von Bissen spricht.

Wir haben Herr Haller über den Tod seiner Frau informiert und die Kriminalpolizei hat inzwischen alle Patienten und Mitarbeiter befragt.


Persönliche Anmerkungen:

Ich werde zukünftig alle Fälle mit Trypophobie meiden und an meine Mitarbeiter weiterleiten. Ich habe während der Behandlung von Frau Haller und der Recherche zu ihrem Fall, scheinbar eine eigene Trypophobie entwickelt...



















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